Moloch München Eine Stadt wird verkauft

2015

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Titelbild: © Oswald Baumeister / Gesellschaft für ökologische Forschung e.V. []

Januar 2015: Bellevue übernimmt. Zuerst sollten alle drei Häuser Müllerstraße 2, 4 und 6 abgerissen werden, dann 2 und 4, während 6 saniert werden sollte. Nun soll ein Projekt für 40 junge Flüchtlinge dort entstehen, dazu eine Beratungsstelle, Bildungsräume, ein Café. Kommunalreferent Axel Markwardt empfahl dem Stadtrat, die drei Häuser auf 1000 Quadratmeter Grund in Erbbau an Bellevue di Monaco zu vergeben.1

Februar 2015: Maklerseminar von Goldgrund. Das Makler-Seminar von Goldgrund am 5.2.2015 (eine MVHS-Veranstaltung im Gasteig) sollte in eineinhalb Stunden die Arbeitsweise vermitteln: vor allem auch den Maklersprech, wie Darsteller Carlo Günther betont, der den Makler Dirk von Stahligk darstellte: „dreist, superlativistisch, in ganz bestimmten Schemata. Das ist die Sprache des Luftschlossbaus.“ Die Makler-Bausteine waren: Rhetorik – How to sell, how to trick, how to bluff. Dazu gehörte eine Einführung in ImmoScout24 und die Umsetzung in Russisch, Arabisch und Börsendenglisch. Zum erfolgreichen Abschluss gab es das „Goldgrund Academy Zertifikat“.2 Als Gäste kamen u. a. die russische Maklerin Liudmilla Belykh, die das Immobilien-Angebot in München als nicht ausreichend für russische Millionäre beurteilte. Stefan Höglmaier von Euroboden konnte angeblich kaum nachvollziehen, wohin die Preise gegangen sind. Christian Stupka von der Wogeno verließ mit seinem Plädoyer für ein neues Bodenrecht den Rahmen des Kabaretts. Carlo Günther und Philipp Rühle leiteten als arrogante Goldgrund-Geschäftsführer das „Seminar“.3

März 2015: Genossenschaft Bellevue di Monaco. Die Initiative Bellevue di Monaco hat die Organisationsform einer Sozialgenossenschaft mit Aufsichtsrat und Vorstand gewählt. AR-Vorsitzender wurde Johannes Seiser, Geschäftsführer vom Verein für Sozialarbeit, Vorstand wurde Till Hofmann. Bellevue sucht Mitglieder für die Genossenschaft, die eine Mindesteinlage von 500 Euro einlegen.4

April 2015: 1200 Jahre Johanneskirchen. Eine Urkunde vom 2. Oktober 815 erwähnt erstmalig die Filialkirche Johanneskirchen. Deshalb feierte der Ort von Mai bis Oktober sein 1200-jähriges Bestehen mit einem Festakt, einem neuen Maibaum und vielen Veranstaltungen. Johanneskirchen droht ein neuer Ortsteil, wobei Ortsteil untertrieben wäre: 10.000 bis 30.000 Bewohner sollen in einer Städtebaulichen Entwicklungsmaßnahme (SEM Nordost) östlich der Bahn bis zur Gemeindegrenze von Aschheim angesiedelt werden – auf 600 Hektar, die bislang hauptsächlich als landwirtschaftlicher Grund genutzt werden.5

Juni 2015: Erhardtstraße 10, Isarvorstadt. Einige Mieter lebten hier jahrzehntelang, bis Euroboden das Anwesen kaufte. Abriss und Neubau sollen erfolgen, da die Immobilie marode sei und die Verkehrssicherheit (Brandschutz) nicht mehr gewährleistet werden könne. Dazu gab es im Rückgebäude von einer früheren Lackfabrik Schadstoffbelastungen, die das gesamte Grundstück kontaminiert haben könnten. Der Altbestand hat sieben Wohnungen mit etwa 650 Quadratmetern, der Neubau hat zwei Höfe und 28 Wohnungen in vier Häusern mit rund 3000 Quadratmetern Wohnfläche.6 – Nach Auskunft von Euroboden-Geschäftsführer Stefan Höglmaier im November 2020 kostet der Quadratmeter Wohnfläche in der Erhardtstraße 10 ab 16.600 Euro.7

Juli 2015: Partizipations-Spektakel in Johanneskirchen. Der kleine Münchner Ortsteil Johanneskirchen (etwa 11.000 Einwohner) soll durch die SEM Nordost 10.000 bis 30.000 Einwohner, dazu etwa 2000 Arbeitsplätze dazubekommen. Deshalb inszenierte das Planungsreferat diverse Veranstaltungen: Sommer 2014 Workshop-Wochenende und Podiumsdiskussionen, 18.7.2015 Sommer-Workshop im Rahmen der 1200-Jahr-Feier. Bei den 600 zu bebauenden Hektar gebe es über 500 Einzeleigentümer, erwähnt Michael Hardi, Leiter der Hauptabteilung Stadtplanung, vorher Büroleiter und Pressesprecher der Stadtbaurätin Elisabeth Merk. Hardi äußerte auch, dass es Eigentümergemeinschaften gebe, „mit denen es bestimmt eine besondere Freude wird, zu verhandeln“.8
Mit den üblichen Pseudo-Beteiligungs-Schemata soll die jetzige Johanneskirchner Bewohnerschaft das Gefühl bekommen, irgendwie doch mitreden zu können, obwohl alles im Münchner Rathaus und im Planungsreferat entschieden wird.
Vgl.: Partizipations-Spektakel

Juli 2015: Leerstandsmelder. Die Journalistin Lisa Rüffer, Maximilian Heisler vom Bündnis Bezahlbares Wohnen und der Designer Max Brandl stellten die Webseite www.leerstand089.de ins Internet. Schätzungen gehen von 17.000 leer stehenden Wohnungen in München aus, wovon nur wenige der LH München gehören. Im September 2014 waren es 576, am 31.3.2015 standen 313 städtische Wohnungen leer.9
Inzwischen hat die Stadt München selbst die Webseite Raum für München – Gemeinsam gegen Zweckentfremdung installiert: https://www.muenchen.de/rathaus/Stadtverwaltung/Sozialreferat/Wohnungsamt/Zweckentfremdung.html

Juli 2015: Euroboden darf abreißen. Am 21.7.2015 hat das Verwaltungsgericht München gegen die LH München entschieden: Die Villa in der Kolbergerstraße 5 darf abgerissen werden.10
Vgl.: Kolbergerstraße 5

September 2015: Klagen gegen Gefängnis-Umbau. Das ehemalige Frauengefängnis Am Neudeck steht seit 2009 leer. Zunächst sollte die Stiftung „Hotel Biss“ das Gebäude in eine Ausbildungsstelle für benachteiligte Jugendliche umbauen. Der Freistaat aber verkaufte meistbietend im April 2011 an MUC Real Estate: Hier sollten 135 Apartments und zehn Luxus-Dachgeschosswohnungen gebaut werden, dazu wurden in einem Neubau 58 Apartments und eine Tiefgarage mit 75 Stellplätzen geplant. Die Stadt hatte 2014 eine Baugenehmigung erteilt, gegen die das benachbarte Landratsamt wegen Abstandsflächen und ungeklärter Wohnnutzung klagte. Ein Urteil des Verwaltungsgerichts vom Dezember 2014 gab dem Landratsamt recht: Es gebe in der Umgebung kaum Wohnungsnutzung. Der Investor legte Berufung ein. Der BA hatte zunächst beantragt, dass die Stadt das Areal übernimmt, die das aber wegen der Auflagen des Denkmalschutzes und der hohen Umbaukosten ablehnte. Beim jetzigen Stand des Projektes von MUC Real Estate und dem Leipziger Unternehmen First Single Apartment vermisste der BA jeden sozialen Aspekt.11
Nachtrag April 2016: Die LH München erteilte in der Zwischenzeit eine Baugenehmigung für 128 Wohneinheiten ohne Neubau, aber mit Anbauten und Tiefgarage. Dagegen klagte wiederum das Landratsamt, somit liegen der Stadt München nun drei Klagen des Landkreises München vor.12
Nachtrag Juli 2017: Im Frühjahr 2017 verkaufte MUC Real Estate das Areal an Legat Living. Der Neubau wurde gestrichen, damit wurden auch die Klagen zurückgezogen. Es sind nun 124 Apartments zwischen 23 und 50 Quadratmetern und vier große Dachgeschoss-Wohnungen geplant.13

September 2015: BMW will Autobahn-Anschluss. Die Schleißheimer Straße soll bis zum Autobahnring A 99 verlängert werden. Wahrscheinlich soll die Trasse in einem Tunnel verlaufen, vermutet der BA-Vorsitzende von Milbertshofen-Am Hart. Sie müsste das Naturschutzgebiet Panzerwiese und Hartelholz unterqueren. Bis jetzt verläuft eine Verbindung zum FIZ von BMW und zum Stammwerk über die Ingolstädter Straße und den Anschluss München-Neuherberg.14

Oktober 2015: Parken à la Microsoft. Die Parkstadt Schwabing sollte besser Park-Stadt Schwabing heißen: Ein großer Bürokomplex nach dem anderen entsteht, und die Beschäftigten parken oberirdisch. Nun kommt die neue Deutschlandzentrale von Microsoft auf einem Grundstück von 10.455 Quadratmeter an der Anni-Albers-Straße, zwischen der Oskar-Schlemmer-Straße und der Walter-Gropius-Straße. Die LH München rief laut HIERHER, und schon zieht Microsoft in den von Alt-OB Georg Kronawitter so benannten „Dampfkessel“. Neben Microsoft sind u. a. Amazon, Osram, Fujitsu, Arri in der Parkstadt. (Vgl.: Isar Valley)
„Der Festmietvertrag von Microsoft mit dem Projektentwickler Argenta läuft bis 2032: Festmietvertrag bis 2032 mit Microsoft über 26.000 m², weitere Mietflächen von 5.360 m² befinden sich derzeit in Vermietung durch ARGENTA.“15
In Unterschleißheim beschäftigte Microsoft um die 1800 Beschäftigte, in München sollen 1900 Mitarbeiter tätig sein. Die Stadt handelte mit Argenta einen Parkplatz-Kompromiss aus: statt 550 nur 450 Parkplätze. In der Tiefgarage können 360 Autos parken. Microsoft hat aber 750 Firmenfahrzeuge. Ein drittes Tiefgeschoss war Microsoft zu teuer: Nun parken die anderen Fahrzeuge von Microsoft auf einem oberirdischen Grundstück. Argenta-Chef Helmut Röschinger verkaufte dies als „Übergangslösung“, weil Microsoft in fünf Jahren seine Mitarbeiter von den Dienstwagen entwöhnen will. Der neue Parkplatz soll begrünt und mit Kübelbäumen versehen werden.16

November 2015: Wohnungs-Bieterschlacht (1). Der zweitgrößte deutsche Wohnungskonzern Deutsche Wohnen kauft 13.600 Wohnungen von der Patrizia AG, um damit eine Übernahme des größten Wohnungskonzern Vonovia zu verhindern. Patrizia hatte dieses Paket namens „Obligo“ von einem skandinavischen Konzern gekauft und verkauft es nun unter dem Namen „Harald“ an Deutsche Wohnen. Vonovia wollte für 14 Milliarden Euro die Deutsche Wohnen kaufen, vorausgesetzt Deutsche Wohnen kauft nicht groß hinzu und erhöht nicht das Kapital. Beide Wohnungskonzerne hätten zusammen über eine halbe Million Wohnungen. Allerdings müssten über die Hälfte der Aktionäre der Deutsche Wohnen ihre Anteilsscheine an Vonovia verkaufen. Ein Großaktionär beklagte sich über den Chef von Deutsche Wohnen, Michael Zahn, der 2015 schon zwei Übernahmen verpatzt hätte: Im Frühjahr die Übernahme von Conwert in Österreich und kürzlich die Übernahme der Rivalin LEG in Nordrhein-Westfalen.17

Dezember 2015: Wohnungs-Bieterschlacht (2). Der Bochumer Vonovia-Wohnungskonzern bot Anfang Dezember 2015 etwas über 83 Euro für die Deutsche-Wohnen-Aktie plus sieben Vonovia-Papiere. Vonovia bräuchte 50 Prozent plus eine Aktie, um Deutsche Wohnen übernehmen zu können.18
Der nämliche Übernahmeversuch von Vonovia gegenüber Deutsche Wohnung scheiterte dann im Juli 2021.

Dezember 2015: München wächst, die Armut auch. In München wohnen nun über 1,5 Millionen Menschen. Damit wächst auch die Armut in der Stadt. Laut Sozialreferat ist die Zahl der Hartz-IV-Empfänger im ersten Halbjahr 2015 um 2,6 Prozent auf 76.600 angewachsen und könnte bis Ende 2015 bei etwa 79.000 liegen. Fast 14.000 Münchner bezogen bis 30.6.2015 Grundsicherung im Alter, die Zahl der Menschen mit Erwerbsminderung wird bis Ende 2015 bei 3800 liegen. Im Jahr 2008 gab es rund 2500 Wohnungslose, derzeit sind es 5300. Die Zahl der zu vergebenden Sozialwohnungen schrumpft: 2014 waren es 3700, 2015 erwartet das Sozialreferat weniger als 3200. 12.800 Haushalte warten auf eine Sozialwohnung.19

Dezember 2015: Ganz schnell ganz viel bauen. 20.000 bis 25.000 Neubürger hat München jährlich – geschuldet der kontinuierlichen Ansiedlung von Arbeitsplätzen. OB Dieter Reiter äußerte angesichts des stetigen Zuwachses in München: „Wir müssen ganz schnell ganz viel und auch günstig bauen.“ Pro Jahr 8500 neue Wohnungen sind das Ziel der rot-schwarzen Rathauskoalition. Ein Gulasch an Ideen schwirrte herum: Überbauung von Parkplätzen, Mikro-Apartments mit 25 Quadratmetern, weniger Energiedämmung. Gewerbeimmobilien fürs Wohnen, Nachverdichtung, In-die-Höhe-Bauen. Auf den ehemaligen Arealen der Münchner Kasernen wird mit 45.000 Wohnungen gerechnet.20

  1. Kastner, Bernd, Gute Aussichten für Bellevue, in SZ 28.1.2015 []
  2. Handel, Stefan, Luftschlösser bauen, in SZ 4.2.2015 []
  3. Becker, Thomas, Seriös auftreten und gekonnt bluffen, in SZ 7.2.2015 []
  4. Kastner, Bernd, Visionen für München, in SZ 25.3.2015 []
  5. Steinbacher, Ulrike, Ein stolzer Geburtstag, in SZ 22.4.2015 []
  6. Grundner, Hubert, Wenn der Bagger die Heimat frisst, in SZ 6.6.2015; Matzig, Gerhard, Vermeintlich glänzend, in SZ 1.3.2021 []
  7. Krass, Sebastian, Wer sich einbringt, gewinnt, in SZ 26.11.2020 []
  8. Steinbacher, Ulrike, Es hängt noch eine Menge in der Luft, in SZ 9.7.2015 []
  9. Backes, Thierry, Bürger sollen Leerstand melden, in SZ 10.7.2015 []
  10. Müller-Jentsch, Ekkehard, Investor siegt, Stadt verliert, in SZ 22.7.2015 []
  11. Dürr, Alfred, Warum der Umbau am Neudeck stillsteht, in sueddeutsche.de 28.9.2015; Hund, Anne, Ehemaliger Frauenknast: Weiter Stillstand und Leerstand am Neudeck, in merkur.de 18.4.2016 []
  12. Hund, Anne, Ehemaliger Frauenknast: Weiter Stillstand und Leerstand am Neudeck, in merkur.de 18.4.2016 []
  13. Dürr, Alfred, Wohnen in der Au: Komplex „Haus Mühlbach“, in sueddeutsche.de 25.7.2017 []
  14. Graner, Nicole, Die Tücken der Röhre, in SZ 28.9.2015 []
  15. https://www.argenta.de/?page_id=330 []
  16. Mühleisen, Stefan, Fünf Jahre lang Parken, in SZ 1.10.2015 []
  17. Übernahmeschlacht: Deutsche Wohnen wehrt sich, in faz.net 28.11.2015 []
  18. Vonovia legt offiziell Übernahmeangebot vor, in n-tv.de 1.12.2015 []
  19. Loerzer, Sven, Im Schatten des Reichtums, in SZ 3.12.2015 []
  20. Effern, Heiner, Ganz woanders wohnen, in SZ 4.12.2015 []
Moloch München Eine Stadt wird verkauft

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