Aktualisiert 16.8.2022
„Städte werden produziert wie Automobile.“
Alexander Mitscherlich [1]
Der Bausektor
Die Bauwut ist auch eine Lust an der Zerstörung. Die Krankheit Bauwut hat Ähnlichkeiten mit der Krankheit Tollwut, welche die Symptome Sensibilitätsverlust, Angst, Verwirrtheit, Halluzinationen hat. Und Bauwut scheint ähnlich ansteckend zu sein wie Tollwut. Zumindest hat die Bauwut weite Teile des Stadtrats, das gesamte Planungsreferat, viele Einwohner und natürlich den gesamten Immobiliensektor befallen.
Kaum ein Wirtschaftszweig kann seit langem so ungestüm und unkritisiert, so brutal und profitorientiert Gebäude abreißen, Bestand vernichten, vielfach schlechten Ersatz neu bauen. Oft schon nach zwei, drei Jahrzehnten werden dann Gebäude komplett abgerissen und massiver verdichtet neu gebaut. Häufig werden auch historische Relikte und denkmalgeschützte Bauteile von Investoren heimlich oder offiziell beseitigt, um profitable Wohngebäude zu errichten. Dazu kommen die inzwischen irrwitzig hohen Immobilienpreise. Die durchschnittlichen Quadratmeterpreise für Neubauten liegen inzwischen in München bei über 10.000 Euro, auch in Stadtrandgebieten wie Feldmoching oder Am Hart/Milbertshofen. Bei Luxuswohnanlagen werden auch gern über 20.000 Euro verlangt. (Siehe: München-Preisliste).
Dazu auch der Architekt Hans Kollhoff: „Selbst die Haustechniker kommen den hyperventilierenden Entwicklungen nicht mehr hinterher, ganz zu schweigen von der Koordination der Gewerke untereinander, Lüftung, Kühlung, Elektro, Medien, Brandschutz, Sicherheit usw. das Ergebnis dieses Fortschritts ist nichts weniger als der Abschied vom soliden Bauen: Die Außenwand wird in Schichten aufgelöst, wobei die dickste aus Styropor besteht, obwohl das Material vom Gesetzgeber als Sondermüll eingestuft wurde, nichtsdestotrotz aber weiterverwendet werden darf. Die Oberfläche der Innenräume werden zum größten Teil aus Gipskarton auf Aluminiumständerwerk oder Systemdeckenabhängungen hergestellt und euphemistisch ‚Trockenbau‘ genannt. (…) Wer sich diesem Prozess nicht konsequent widersetzt, muss damit rechnen, in zwanzig, dreißig Jahren vor einer unbrauchbaren, wertlosen Immobilie zu stehen, deren Entsorgung nicht mehr bezahlbar ist. Wenn die Bagger anrücken, wird man sich lustig machen über die einst penibel ausgerechnete Recycle-Fähigkeit der beim Bau verwendeten Materialien.“ [2]
Die Stadtplanung
Hinzu kommt, zumindest in München, eine willfährige und auf Wachstum fixierte Stadtverwaltung mit einer fast schon autonom agierenden Stadtplanung: süchtig nach Ansiedlung von Arbeitsplätzen, die dann gerade in München die viel beschworene Wohnungsnot verursachen. Eine geordnete, maßvolle Stadtplanung gibt es nicht mehr: Das Leitmotiv und Dogma heißt Wachstum, dessen Grenzen höchstens das Stadtgebiet selbst darstellt. Der Bauboom und seine Weiterentwicklung ziehen dann, wie im Fall München, immer weitere Kreise; schon länger in das Voralpenland, aber auch z. B. nach Niederbayern und bis zum Bayerischen Wald. Die dort Ansässigen können dann schauen, wie sie mit importierter Wohnungsnot und hohen Mieten zurechtkommen.
Massive Versiegelung
Ungeniert werden in München viele neue Quartiere mit bis zu 30.000 Einwohnern geplant: die von einer „Stadtplanung“ weniger geplant, als nur noch durchgezogen werden. Es steht zu befürchten, dass diese neuen Massenansiedlungen die neuen Banlieues von morgen werden. Außerdem ist in den nächsten zehn Jahren die weitere Überbauung von 2000 Hektar Grünflächen und landwirtschaftlicher Grund auf dem Münchner Stadtgebiet geplant: 900 Hektar Sem Nord, 600 Hektar SEM Nordost, Eggarten 21 Hektar, riesige Flächen in Freiham, in der Messestadt Riem usw. Diese Versiegelung hat absehbare Folgen bezüglich Klimaerwärmung und Artensterben in der Stadt.
Kleiner Überblick im Sommer 2021: Der Wald brennt von Südamerika über Kalifornien, Italien, Griechenland, die Türkei bis Tadschikistan. Die Überschwemmungskatastrohe in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz ist eindeutig der Klimaerwärmung zuzuordnen. Und was macht die LH München? Business as usual. Seit der Jahrtausendwende bewegt sich die Stadt auf eine sich selbst verstärkende Klimakatastrophe hin. Im Jahr 2020 hatten wir im Sommer drei Wochenenden mit über 40 Grad Celsius. Die Stadt wird in den 2030er Jahren unter der dadurch verstärkten Klimakatastrophe noch mehr leiden.
Bauen und die Folgen
Hier werden einige Aspekte von Bauen als Zerstörung kurz skizziert, die im restlichen Teil von Moloch München näher ausgeführt sind.
– Spekulation. Der Investor kann abwarten und entmieten. Oft wechseln, wie in der Türkenstraße, Wohngebäude über Jahre mehrfach den Eigentümer, bis ein maximaler Grundstückspreis erreicht ist: Dann beginnen Abriss und Neubau.
– Vernichtung von Geschichte und historischen Zusammenhängen. Mit jedem Abriss eines Altbaus verschwindet ein Zeitzeuge, ein Ensemble, oft auch ein Denkmal. Alexander Mitscherlich nannte dies bereits 1965 „eine so bedenkenlose und vorerst noch keineswegs abgeschlossene Traditionsvernichtung“. Aber Ehrfurcht vor der Historie ist in der Immobilienwelt ein Makel und interessiert Investoren grundsätzlich NICHT. Investoren sind grundsätzlich nur am Gewinn orientiert.
– Missachtung der grauen Energie. Neubauten werden oft mit Verweis auf einen vermeintlich ineffizienten Energieverbrauch abgerissen: Dabei sind bis zur Hälfte der Energie im Bestand der Gebäude gespeichert: für Bau und Herstellung, Betrieb und Rückbau.
– Vom Baumaterial zum Bauschutt. Das ist ein ökologisches Desaster. Inzwischen werden bereits moderne Bauten abgerissen wie das Ensemble Südlicht vom Stararchitekten Richard Meier in Obersendling von 1990. Dann wird höher verdichtet geplant und neu gebaut.
– Verluste von materiellen Werten. Der Bausektor ist ein ständiger Verschleiß und eine permanente Vergeudung von finanziellen Ressourcen, die wesentlich sinnvoller eingesetzt werden könnten.
– Verluste von ideellen Werten. Die Akzeptanz des Unperfekten, des nicht mehr auf dem neuesten Stand Befindlichen, verschwindet. Es wird als „unmodern“ diffamiert. Dabei ist das sogenannte Moderne in kürzester Zeit selbst wieder unmodern. Die Investoren-Diktatur der Gegenwart lässt eine Bau-Vergangenheit nicht zu, ebenso wenig wie eine Vielfältigkeit. Deshalb steht in München die Kuben-Architektur so hoch im Kurs. (Ich nenne das die Ritter-Sport-Architektur: einfach, quadratisch, ungut.)
– Verluste von sozialen Werten. Auch das interessiert Investoren nicht: Dass ihre Neubauten oder ihre Umwandlung in Eigentumswohnungen Folgen hat: die Vertreibung der ansässigen Bevölkerung und Gentrifizierung, die Zerstörung von gewachsener Nachbarschaft, das Hinauswuchern von Städten wie München in das weitere Umland – und die Vertreibung der dortigen Bevölkerung.
– Verluste der gewachsenen Stadt. Das ehemalige Stadtgefühl, das Stadtflair, die Eigenheiten der Stadtkultur gehen unter im Brei der immer gleichen Fußgängerzonen, der immer gleichen Ladenketten, der immer gleichen Banalarchitektur. Ältere Gebäude in den Stadtkernen und Fußgängerzonen werden für Profanbauten abgerissen – oder aufgerissen für riesige Schaufensterfronten. Die Baukultur ist einer Mammon-Architektur gewichen, wo die immer gleichen Unternehmer, Investoren, Architekturbüros ihre so gewaltigen wie eindimensionalen Spuren hinterlassen.
Verluste am wertvollen Grün. Die Baumanie verdrängt alte Villen und ihre Gärten, zerstört kleine Häuser im Grünen. Es folgt eine Massivstbebauung angesichts der unglaublich hohen Quadratmeterpreise für Wohnfläche. Da ist nur noch Platz für eine ökologisch meist wertlose Begrünung auf engstem Raum. Über den Tiefgaragen wurzeln keine Bäume, und das Tiefgaragen-Begleitgrün muss pflegeleicht und nicht schmutzend sein.
Verbietet das Bauen! Das sind nur einige Aspekte zum heutigen Bauen als Zerstörung. Man könnte die Liste endlos fortführen. Auch an dieser Stelle zu empfohlen: Daniel Fuhrhop, Verbietet das Bauen! Eine Streitschrift, 1. Aufl. München 2015; – Verbietet das Bauen! Streitschrift gegen Spekulation, Abriss und Flächenfraß, 2. Aufl. München 2020
Verbietet das Abreißen. Am 7.3.2022 stellten der Landesverein für Heimatpflege und der Bund Deutscher Architektinnen und Architekten (BDA) ihre Initiative gegen die Abreißerei vor. Pro Person fallen in Deutschland 227 kg Abfall an: aber über 2,500 kg an Bauschutt und Abbruchmasse. Historische Verluste gibt es nicht nur in den Städten: Auf dem Land werden alte Wirtshäuser, Bauernhöfe und andere prägende Bauwerke abgerissen. Dabei könnten viele alte Bauwerke umgenutzt werden. Annemarie Bosch vom Präsidium des BDA wies auf die Zerstörungswelle von Wohngebäuden aus den Sechziger und Siebziger Jahren hin: immerhin ein Bestand von zwölf Millionen Wohnungen. Beide Institutionen haben 13 Forderungen pro Umbau aufgestellt. Insbesondere müsse die Graue Energie in die Bilanzen einfließen, damit eine Kostenwahrheit zwischen Neubau und Umbau entsteht. [3]
Interview mit Lamia Messari-Becker. Die Bauingenieurin ist Professorin für Gebäudetechnologie und Bauphysik an der Universität Siegen und Mitglied im Club of Rome International. Im Folgenden Zitate aus ihrem SZ-Interview. „Bauen steht weltweit für ein Drittel der CO2-Emissionen, für 40 Prozent des Energiebedarfs und 50 Prozent des Materialverbrauchs.“ Der Bundesbürger hat einen Materialrucksack von fast 400 Tonnen. – „China hat zwischen 2011 und 2013 so viel Zement verbraucht wie die USA im ganzen 20. Jahrhundert.“ -Wir brauchen einen Ressourcenausweis, „der berücksichtigt, welche Aufwände an Rohstoffen und Emissionen über den gesamten Lebenszyklus eines Gebäudes entstehen. Der heutige Energieausweis erfasst nur den Energiebedarf, aber eben nicht die sogenannte graue Energie.“ [4]
Fußnoten und Quellen
- Mitscherlich, Alexander, Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden, Frankfurt 1965, S. 33⇑
- Kollhoff, Hans, Architekten. Ein Metier baut ab, Springe 2022, S. 108f⇑
- Kratzer, Hans, „Die Abreißerei muss ein Ende haben“, in SZ 8.3.2022⇑
- Interview: Mattauch, Christine, Ökologisches Wohnen für alle, in SZ 23.4.2022⇑