Moloch München Eine Stadt wird verkauft

Nachhaltigkeit

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Titelbild: © Oswald Baumeister / Gesellschaft für ökologische Forschung e.V. []

Aktualisiert am 3.10.2022

Das ist ein etwa 200 Jahre alter Begriff, der ursprünglich aus der Forstwirtschaft stammt: „Die beteiligten Systeme können ein bestimmtes Maß an Ressourcennutzung dauerhaft aushalten, ohne Schaden zu nehmen. Das Prinzip wurde zuerst in der Forstwirtschaft angewendet: Im Wald ist nur so viel Holz zu schlagen wie permanent nachwächst. Als in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erkannt wurde, dass alle Rohstoffe und Energievorräte auf der Welt auszugehen drohen, ging sein Gebrauch auf den Umgang mit allen Ressourcen über.“ (Wikipedia)
Inzwischen ist die ursprünglich sinnvolle Idee einer „sustainable economy“ teilweise pervertiert oder als greenwashing missbraucht worden.

Pseudo-Einsparungen. Was an Energieeinsparungen an Gebäuden erreicht wird, wird gleichzeitig durch immer größere Wohnungen und aufwendigere Gewerbebauten zunichte gemacht. Oder das „Öko-Haus“ steht weit ab vom ÖPNV und dem Arbeitsplatz, der nur aufwendig mit dem Auto erreicht werden kann. Auch „Ökohäuser“ brauchen Platz, benötigen wertvolle Baustoffe, beruhigen oft nur das Gewissen, ohne wirklich klimarelevant zu sein. Oft liegen sie weitab vom ÖPNV und vom Arbeitsplatz, der nur mit dem Auto erreicht werden kann. Daniel Fuhrhop nennt dies „die Zersiedelung der Städte im ökologischen Gewand“. [1]

Rebound-Effekt. Hinzu kommt der Rebound-Effekt: „“Mit Rebound-Effekt (englisch für Abprall- oder Rückschlageffekt) werden in der Energieökonomie mehrere Effekte bezeichnet, die dazu führen, dass das Einsparpotenzial von Effizienzsteigerungen nicht oder nur teilweise verwirklicht wird. Die Effizienzsteigerung sorgt dafür, dass der Verbraucher weniger Ausgaben hat und deshalb weitere Produkte erwerben kann. Führt die Effizienzsteigerung gar zu erhöhtem Verbrauch (das heißt zu einem Rebound-Effekt von über 100 Prozent), spricht man von Backfire. Der Rebound-Effekt ist ein Anstieg des Energieverbrauchs aufgrund einer Effizienzsteigerung. Er ist ein prozentualer Anteil des theoretischen Einsparpotenzials von Effizienzsteigerungen, der durch das Verhalten der Verbraucher nicht eingespart werden kann.“ (Wikipedia)
Nur zu oft fährt der Eigentümer eines sogenannten „Ökohauses“ einen dicken SUV, da er ja woanders vermeintlich Energie einspart. [2] Oder man lebt in einem Niedrigenergiehaus, aber auf entsprechend größerer Fläche: Die durchschnittliche Wohnfläche liegt inzwischen bei 47 Quadratmeter. [3]

Viel Geld für keine Energieeinsparung. Deutschland hat 350 Milliarden Euro von 2010 bis 2018 in die energetische Sanierung von Gebäuden investiert. Der Energieverbrauch der Bürger ist aber nahezu gleich geblieben: 130 kWh pro qm. „Nach einer Sanierung gönnen sich die Bewohner offenbar mehr Komfort. Sie stellen die Heizung höher, duschen länger, lassen das Fenster gekippt. (…) Der Umgang mit Energie wird sorgloser, der Fortschritt verpufft.“ [4]

Siehe zu Nachhaltigkeit auch: https://www.nolympia.de/kritisches-olympisches-lexikon/nachhaltigkeit/
Und zum „grünen“ Kapitalismus: https://www.irrtum-elektroauto.de/lexikon/bio-kapitalismus/

Nachhaltig oder nicht-nachhaltig? Wie pervers mit dem Begriff „Nachhaltigkeit“ geworden ist, zeigte die Diskussion um die Atomkraftwerke vom Januar 2022: Die EU-Kommission wollte (auf Drängen von Frankreich) die Atomenergie als Green Energy einstufen lassen. Und die deutsche Rüstungs- und Verteidigungsindustrie zeigt sich empört, dass die EU-Kommission wiederum die Rüstungsbranche als nicht nachhaltige Branche einstufen möchte. [5]

Zur „Nachhaltigkeit“ von Hochhäusern. Thomas Auer, Professor für Gebäudetechnologie und klimagerechtes Bauen an der TUM, über Hochhäuser: „Wenn es in großen Hochhäusern von über 100 Metern Höhe eine Batterie mit acht Aufzügen und mehr im Inneren gibt, dann ist es erschreckend, wie wenig nutzbare Fläche um diesen Erschließungskern herum noch bleibt. Je höher man geht, desto ineffizienter wird die Geschossfläche. (…) Was tragen Hochhäuser zur Nachhaltigkeit bei? Und da muss ich sagen: nichts.“ [6]

Radeln zum Überzeugen. Mitte Mai 2022 organisierte die MVHS eine Informations-Radtour zur SEM Nordost. Etwas mehr als 20 Anwohner nahmen teil sowie Mitarbeiter des Planungsreferats mit Architekt Björn Severin vom Büro Rheinflügel und Timo Herrmann von BBZ Landschaftsarchitekten. Der Stadtrat hatte sich für den Ausbau auf 30.000 Bewohner entschieden. Severin bezeichnete die Maximal-Variante als „die Sinnvollste wegen der Potentiale, die der Ort bietet“ und ergänzte: „Man kann hier wirklich ein nachhaltiges Stück Stadt bauen.“ [7]
Ohne möglichst häufige Verwendung des Wortes „nachhaltig“ scheint heutzutage kein Bauplan mehr genehmigt zu werden, egal wie un-nachhaltig diese Projekte sind. 

Die neue „Nachhaltigkeit“. Zum Beispiel Oktober 2022: Bis zu 65 Meter hoch sollen die drei Hochhäuser von Art-Invest an der Rosenheimerstraße 139 am Ostbahnhof werden. (Architekturbüro Ochs Schmidhuber Architekten, OSA). Ein Hochhaus im Bestand wird überarbeitet. Bei den zwei anderen überarbeitete OSA die Fassade. Und schon war die Stadtgestaltungskommission begeistert. Wiederum gab es eine Art Genehmigungs-Bonbons: Das Hochhaus im Bestand wird entkernt und bleibt stehen (Stichwort Graue Energie). Und die Sonnenschutz-Lamellen tragen Photovoltaikzellen. [8]
Moloch München lernt dazu. Man hat den Eindruck, vor kurzem war bei wichtigen Bauvorhaben der möglichst häufige Einsatz des Begriffs Nachhaltigkeit notwendig, um Investoren an ihr Ziel zu bringen. Nun ist die Situation differenzierter. Man könnte fast meinen, es reicht ein bisschen Zugeständnis an den kritischen Zeitgeist wie begrünte Dächer, ein paar zusätzliche Grünflächen über der Tiefgarage, der Einsatz von (meist nur minimalem Anteil an) Recycling-Baumaterial – und schon winkt die Baugenehmigung.
Wie z. B. die Genehmigungs-Bonbons am Beispiel Obersendling: Der Münchner Investor Salvis plant drei Hochhäuser mit 80 Meter Höhe und rund 170.000 qm Geschoßfläche an der Kreuzung Boschetsrieder Straße / Machtlfinger Straße. Auf dem Gelände war früher ein Siemens-Gebäude und ein Betonwerk (Zwischennutzung: Sugar Mountain). Hier sollen 5000 Arbeitsplätze, 220 Wohnungen, ein Hotel, Gewerbeflächen und Kulturflächen entstehen. Der Planungsausschuss des Stadtrats hat das Projekt im September 2022 gegen die Fraktionen von ÖDP/München-Liste und Die Linke/Die Partei beschlossen. Der Investor versprach einen höheren Anteil an recycelten Baumaterialien. Das gesamte Areal mit 50.000 qm soll mit einer Tiefgarage komplett unterbaut werden. Stadtrat Paul Bickelbacher (Grüne) hat den Investor gebeten, wenigstens die Möglichkeit für einen „richtigen Baum“ vorzusehen. Rot-grün will nun den Investor zu einem höheren Anteil von Photovoltaik-Anlagen auf 60 Prozent der Dachfläche verpflichten. [9]
Und schon flutscht das Verhältnis 5000 Arbeitsplätze versus 220 Wohnungen durch den Planungsausschuss.

Vgl.: Hochhausstudien, Hochhäuser München

Fußnoten und Quellen

  1. Fuhrhop, Daniel, Verbietet das Bauen! München 2020, S. 51
  2. http://www.irrtum-elektroauto.de/lexikon/rebound-effekt/
  3. Broermann, Elisabeth, Der Bausektor ist der größte Klimakiller, in: Bauen von Morgen, Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung, Bonn 2021, S. 103
  4. Jung, Alexander, Die Altbau-Falle, in Der Spiegel 5/29.1.2022
  5. Reuters, Rüstungsindustrie kritisiert Taxonomie, in SZ 5.1.2022
  6. Krass, Sebastian, 60 Meter – „ein gutes Maß“, in SZ 15.2.2022
  7. Gerdom, Ilona, Viele Fragen beim Strampeln, in SZ 20.5.2022
  8. Krass, Sebastian, Türme für den Ostbahnhof in SZ 1.10.2022
  9. Krass, Sebastian, Beton vor den Bergen, in SZ 28.9.2022
Moloch München Eine Stadt wird verkauft

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