Moloch München Eine Stadt wird verkauft

1993

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Titelbild: © Oswald Baumeister / Gesellschaft für ökologische Forschung e.V. []

Februar 1993: Neuer „Stepl. Stadtbaurätin Christine Thalgott stellte die Vorarbeit am neuen Stadtentwicklungsplan vor, der 1994 fertig sein soll. Sie wies darauf hin, dass die Vorgänger schnell vergessen wurden: Das soll diesmal anders sein. Die Wirtschaft sei optimistisch gestimmt, aber die Stadt müsse sich verstärkt für das Gewerbe einsetzen. Alle Stadtratsfraktionen wollen den Dauerkonflikt mit den Umlandgemeinden lösen. Der Leiter des Arbeitskreises Stadtentwicklungsplan, Hans Bleibinhaus (SPD), wies auf die Zielkonflikte des Planungsreferats hin: Eine Entscheidung für den Wohnungsbau ist eine gegen neue Gewerbeflächen, und sowohl Wohnungsbau als auch Gewerbebau sind eine Entscheidung gegen neue Grünflächen.1

Februar 1993: Mietbeirat gegen Bonner Gesetzesnovellen. Zum Schutz sozial schwächerer Mieter soll die Sperrfrist bei Eigenbedarfskündigungen von fünf auf sieben Jahre verlängert werden, allerdings befristet bis 1997. Der Vorsitzende des Mietervereins München, Kurt Mühlhäuser (SPD), bezeichnete dies als „Rosstäuscherei“, da niemandem ein Schutz von sieben Jahren helfe, der in vier Jahren auslaufe. Es wurden vier Anträge gestellt: Die leerstehenden und verfallenden Wohnhäuser Fritz-Reuter-Straße 31, Marsopstraße 16 und Lerchenstraße 57 soll die Stadt über Instandsetzungsgebot und Wiederbelegungsanordnung bewohnbar machen. Außerdem sollen in Neubaugebieten Flächen dem genossenschaftlichen Wohnungsbau zur Verfügung gestellt werden.2

Februar 1993: SPD will baureifes Land stärker besteuern. Der Anteil des Grundstückspreises beläuft sich inzwischen auf 30 bis 50 Prozent der Wohnungskosten. Die bayerische SPD stellte deshalb im Februar 1993 eine Anfrage, wieviel baureifes Bauland aus Spekulationsgründen zurückgehalten wird. Sie schätzt, dass diese Reserven für den Bau von 900.000 Wohnungen reichen würde. Baureifes Land in den Kommunen soll steuerlich stärker belastet werden. Auch fordert die SPD ein Vorkaufsrecht der Gemeinden für ungenutztes Bauland, das mindestens sieben Jahre nicht genutzt wurde.3

März 1993: Big Names in Bogenhausen. Der BA Bogenhausen wollte vom Planungsreferat Auskunft über diverse Bauvorhaben. Flemingstraße 18 bis 24: Hier wird eine alte Villa durch einen Riesenbau ersetzt (EG plus 2 OG plus DG), der das Grundstück bis zu seinen Grenzen ausnutzt, sodass Bäume in Nachbargärten absterben. Bauherrin ist Renate Thyssen-Henne. Das Planungsreferat habe nach § 34 genehmigt; hier wird die Umgebungsbebauung als Maßstab herangezogen. BA-Mitglied Hans Brendel (CSU) kannte nur einen einzigen Vergleichsbau in der Nachbarschaft; Eigentümerin ist ebenfalls Thyssen-Henne. Vilshofener Straße 8: Vorher stand hier auf dem baumbestandenen Grundstück ein Pavillon mit denkmalgeschützter Mauer zur Mauerkircherstraße. Hier baut nun Rolf Sachs, der Sohn von Gunter Sachs. Brendel sah dadurch die „Besondere Siedlungsgebiet-Verordnung“ plus den Denkmalschutz berührt. Wie Franz-Leopold von Stillfried vom Planungsreferat mitteilte, ist in der Denkmalschutzbehörde durch ein Versehen die Akte unter der Flurnummer abgelegt worden. Inzwischen sind die Bäume abgeholzt worden; der BA konnte nicht Stellung nehmen. Im Übrigen sterben hier auch die letzten großen Bäume durch die vielen entstehenden Tiefgaragen ab. Grüntal 14: Bauherrin Quandt-Langenscheidt baute einen überdachten Pool; 1980 war ein kleinerer Plan abgelehnt worden Auch hier wurde der BA nicht gefragt, weder beim Thema Bauantrag noch beim Thema Baumschutz. Bei Brendels Nachfrage wurde der Chef der Unteren Naturschutzbehörde „richtig pampig“, so Brendel.4

Mai 1993: Wie viel Anteil Sozialwohnungen? Von 1980 bis 1992 wurden in München 22.000 Sozialwohnungen gebaut: Ende 1992 warteten 12.550 Haushalte auf eine Sozialwohnung, davon 6410 besonders dringlich. Ende 1990 gab es 98.500 Sozialwohnungen. Für Ende 1992 wird der Bestand auf 88.000 geschätzt. Bis 1995 werden im Jahr rund 6000 aus der Sozialbindung entlassen, zwischen 1996 und 2000 werden es jährlich 3000 sein. Bis Ende 1999 wird es in München nur noch rund 65.000 Sozialwohnungen geben. Dazu werden jährlich 5000 Wohnungen modernisiert; für 11.000 Mietwohnungen liegen Anträge zur Umwandlung in Eigentum vor.
Das Planungsreferat sieht in Neu-Riem von den 6000 Wohnungen 70 Prozent als Sozialwohnungen vor. Die CSU fordert dagegen einen Anteil von 40 Prozent. Die rot-grüne Mehrheit setzte den Anteil von Sozialwohnungen in Neubauvierteln wie Neu-Riem und Panzerwiese von 70 Prozent durch. OB Georg Kronawitter (SPD) warnte davor, im Wohnungsneubau die generelle Lösung zu sehen. Dazu soll ein neues Münchner Genossenschafts-Wohnbauprogramm geschaffen werden. Die Münchner Bodenpreise seien zwischen 1960 und 1990 um 1600 Prozent gestiegen. Deshalb sollten die Verkäufe höher besteuert werden.5

Mai 1993: SPD fordert neue Modelle. Der Bau von Sozialwohnungen hat sich in den letzten 20 Jahren stark verteuert. Dazu bezahlt die Stadt München jährlich als Wohnzuschuss für ärmere Bürger mehr als 100 Millionen DM: Diese Summe fehlt dann beim Bau von Sozialwohnungen. Den Prognosen zufolge werden bis zum Jahr 2000 etwa 90.000 neue Bewohner nach München zuwandern. Laut SPD ist aber nur noch Platz für maximal 50.000 Wohnungen. Auf Vorschlag der SPD sollen 20 Prozent der Flächen in Neubaugebieten für genossenschaftlichen Wohnungsbau reserviert werden. Dazu könnten die Wohnungen wie in Skandinavien flexibel gestaltbare variable Grundrisse haben. Auch Mietkaufmodelle nach dem Einheimischen-Modell werden empfohlen.6

Juli 1993: U-Bahnbau für 750 Millionen DM. Das neue Wohnviertel und die Messe Riem müssen an die U-Bahn angeschlossen werden. Deshalb wird die U2 vom Innsbrucker Ring über sechs neue Bahnhöfe bis zur Messestadt Ost verlängert. Von den 750 Millionen DM Kosten kommen 60 Prozent vom Bund und 30 Prozent vom Land: 10 Prozent muss die Stadt entrichten.7
Das ist alles so folgerichtig wie logisch: neue Gewerbebauten und neue Wohnbezirke bedingen die Verkehrsinfrastruktur sowie die technische und soziale Infrastruktur – bis heute. Man nennt das: Wachstum.  

Juli 1993: Gauweiler als OB-Kandidat nominiert. Peter Gauweiler (CSU) wurde mit 157 von 160 Stimmen zum OB-Kandidaten der CSU bei der Wahl im September 1993 nominiert. Er monierte den breiten Niedergang der Stadt durch das rot-grüne Bündnis und forderte u. a.: neue Tunnels am Mittleren Ring, die Autobahnumgehung im Nordwesten, ein Sofortprogramm für neue Gewerbeflächen und den Wohnungsbau.8

September 1993: Kurz vor der OB-Wahl. OB-Kandidat Peter Gauweiler (CSU) warf SPD und Grünen vor, 1991 und 1992 keinen einzigen Hektar Bauland für Gewerbeflächen ausgewiesen zu haben; 1992 seien über 900 Betriebe aus München weggezogen. OB-Kandidat Christian Ude (SPD) konterte, dass über 700 Betriebe auf der städtischen Warteliste stünden und wies auf bereits jetzt 50 Hektar gesicherte Gewerbeflächen hin: „Wir müssen alles tun, um neue Flächen auch für die Wirtschaft zu sichern.“9

September 1993: 60.000 neue Arbeitsplätze in fünf Jahren. Nach der Wahl von Christian Ude zum OB stellte der Bezirksvorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), Klaus Dittrich, fest, dass in fünf Jahren in München 60.000 neue Arbeitsplätze geschaffen wurden. Trotzdem forderte er vereinfachtere Genehmigungsverfahren, denn die Verabschiedung von Bebauungsplänen müsse unbedingt beschleunigt werden. Der Sprecher der IHK, Arnulf Röhrich, begrüßte die Forderung von Dittrich: In der Münchner Bürokratie herrsche eine „wirtschaftsfeindliche Situation“.10
Wie viele Arbeitsplätze will der DGB noch in München? Und warum wirkt er nicht auf die Schaffung von neuen Arbeitsplätzen in Regionen hin, die diese weitaus nötiger brauchen könnten?

November 1993: Neu-Riem mit 2500 Wohnungen. Der Wettbewerb für den neuen Stadtteil Neu-Riem wurde im November 1993 entschieden. Die Planungsvorgabe lautete u. a. auf 2500 Wohnungen, die laut Stadtbaurätin Christiane Thalgott gut zu überbieten sei.11
Die Situation heute: „Die Messestadt Riem ist ein Stadtviertel im Osten Münchens. Die Messestadt Riem, Teil des Stadtbezirks 15 Trudering-Riem, befindet sich komplett auf dem Gelände des 1992 stillgelegten Flughafens München-Riem und beherbergt heute neben einem Wohnviertel für 16.000 Menschen zahlreiche Bürogebäude sowie die Neue Messe München und das Einkaufszentrum Riem Arcaden.“ (Aus Wikipedia, abgerufen am 13.3.2021)

November 1993: Gefährdung von Naturflächen befürchtet. Bisher müssen bei Bauten in Bayern die Naturschutz-Belange beachtet werden; besonders schützenswerte Flächen dürfen nicht überbaut werden. Bei unvermeidbaren Eingriffen müssen z. B. Böden entsiegelt, Dächer begrünt und Ausgleichsflächen zu Biotopen aufgewertet werden. Im Zug der deutschen Wiedervereinigung, die den „Aufschwung Ost“ fördern soll, wurde ein Investitionserleichterungs- und Wohnbaugesetz installiert, das auch das Baurecht in Ost und West vereinheitlichen soll. Damit kann die Eingriffsregelung für fünf Jahre außer Kraft gesetzt werden. Das bayerische Umweltministerium mit Minister Peter Gauweiler (CSU) an der Spitze plant in einem Referentenentwurf, Standards der Grünplanung zu reduzieren, um „Investitionen zu erleichtern und den Wirtschaftsstandort Bayern zu sichern“. Der Bund Deutscher Landschaftsarchitekten (BDLA) und die Vereinigung für Stadt-, Regional- und Landesplanung (SRL) befürchten, dass durch die bayerische Extratour die Verwertbarkeit von Grund und Boden unter Umgehung des Naturschutzes erleichtert werden soll.12

Dezember 1993: Erleichterte Genehmigungen. Das bayerische Innenministerium will die Bauordnung neu fassen und Bauten ohne behördliche Genehmigung ermöglichen. Staatliche Aufgaben sollen an Private übertragen werden. Wohngebäude mit bis zu drei Stockwerken würden mit einer einfachen Information an die Gemeinde möglich werden. Diese hätte dann vier Wochen Zeit, dagegen einen Einspruch einzulegen. Voraussetzung ist laut Stadtbaurätin Christiane Thalgott ein gültiger Bebauungsplan, der allerdings in Großstädten mit altem Hausbestand oft nicht vorliegt. Sowohl der Landesverband Bayerischer Bauinnungen als auch der Bayerische Handwerkstag erwarten sich einen Impuls für das Baugewerbe.13 Der Bayerische Landesdenkmalrat sah die angestrebten Vereinfachungen im Baurecht im Hinblick auf denkmalgeschützte Gebäude und Ensembles mit Sorge. So könnten künftig Denkmäler ohne baurechtliche Genehmigung abgebrochen werden: Damit entfiele eine Stütze des Baurechts, wie MdL Erich Schosser (CSU) befürchtete.14

  1. Müller, Frank, Der neue Stadtentwicklungsplan – ein Dauerprozess, in SZ 8.2.1993 []
  2. Münster, Thomas, Das neue Mietrecht – eine ‚Rosstäuscherei‘, in SZ 18.2.1993 []
  3. Eckert, Hans-Wilhelm, Kampfansage an die Bodenspekulanten, in SZ 23.2.1993 []
  4. Winkler-Schlang, Renate, Dubiose Fälle verbunden mit großen Namen, in Münchner Stadtanzeiger 11.3.1993 []
  5. Dürr, Alfred, Nur darüber sind sich alle einig: Viel zuwenig erschwingliche Wohnungen, in SZ 6.5.1993 []
  6. Münster, Thomas, Genossenschaftsbauten und Mietkaufmodelle, in SZ 28.5.1993 []
  7. Dürr, Alfred, Die Riemer U-Bahn-Linie kommt ins Rollen, in SZ 14.7.1993 []
  8. Müller, Frank, Gauweiler: Münchens Niedergang aufhalten, in SZ 19.7.1993 []
  9. Wo sparen – wo investieren? In SZ 10.9.1993 []
  10. Augstein, Jakob, Weniger Bürokratie in der Stadtverwaltung, in SZ 15.9.1993 []
  11. Münster, Thomas, Neu-Riem nimmt auf dem Reißbrett Kontur an, in SZ 9.11.1993 []
  12. Thurau, Martin, Der Freistaat fährt im Windschatten in SZ 15.11.1993 []
  13. Vorschriften bremsen Wohnungsbau, in SZ 4.12.1993 []
  14. Peters, Ursula, Stützen des Denkmalschutzes wanken, in SZ 29.12.1993 []
Moloch München Eine Stadt wird verkauft

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