Moloch München Eine Stadt wird verkauft

1996

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Titelbild: © Oswald Baumeister / Gesellschaft für ökologische Forschung e.V. []

Januar 1986: Neu-Riem wächst. OB Christian Ude berichtete euphorisch von 51 Baukränen, die er auf den Riemer Baustellen Messe, Messestadt und U-Bahn gezählt habe. In Richtung der Grünen stellte er fest, es müsse „ein rechter Clown“ sein, wer die neue Messe noch stoppen wolle. Die „Messestadt Riem“ wird 16.000 Einwohner und 13.000 Arbeitsplätze haben. Kaufinteressenten für dortige Grundstücke sollten sich bis 22.1.1996 beim Planungsreferat melden. Im „Münchner Modell“ sollen mindestens 30 Prozent der Wohnungen für die mittleren Einkommen gebaut werden: Der Grundstückspreis wird auf 650 DM pro Quadratmeter plus 150 DM Erschließungskosten heruntersubventioniert.1
Das alte Lied: Da hilft auch der forcierte Wohnungsbau nicht, wenn 16.000 neue Bewohner gleichzeitig 13.000 neuen Arbeitsplätzen gegenüberstehen. Arbeitsplatz frisst Wohnungsbau.

Januar 1996: Rettung in Sicht für Paketposthalle. Die Paketposthalle an der Arnulfstraße 195 wurde 1969 fertig gebaut und war zu der Zeit die weitgespannteste Halle der Welt mit einer Spannweite von 146,8 Meter, einer Höhe von 27,3 Meter und einer Länge von 124 Meter. Die Halle war bis 1996 nicht als Industriedenkmal klassifiziert: Dies war das Ziel von Stadtbaurätin Christiane Thalgott und von Professor Patrick Deby (mit dem ich Jahrzehnte bis zu seinem tragischen Tod befreundet war). Deby hatte mit seinen Studenten eine Ausstellung Anfang 1996 in der Eingangshalle des Planungsreferates an der Blumenstraße konzipiert, die Thalgott eröffnete und die sich mit möglichen künftigen Nutzungen beschäftigte. Befürchtet wurde zu der Zeit, dass die Post die Halle verkauft und der Käufer sie abreißt und durch Neubauten ersetzt.2
Im selben Jahr, 1996, erhielt die Paketposthalle dann den ersehnten Denkmalschutz: Somit waren die Aktivitäten von Deby und Thalgott letztlich erfolgreich.

Februar 1996: Rückgang beim Wohnungsbau. OB Christian Ude hatte beim Amtsantritt 1993 für 1994 mehr als 9000 neue Wohnungen versprochen. CSU-Fraktionschef Hans Podiuk hielt OB Christian Ude vor, dass 1994 gerade einmal 5755 Wohnungen gebaut wurden und Ude keinen Erfassungszeitraum von zwölf, sondern von 19 Monaten zugrunde gelegt habe: was Ude nachträglich auch eingestand. Podiuk führte weiter aus, dass Ude 1994 mit 512 Sozialwohnungen einen Negativrekord der Nachkriegszeit aufgestellt habe. Und bei den 5825 Neubauwohnungen des Jahres 1995 müssten die Verluste von 1197 Wohnungen abgezogen werden müssten.3

März 1996: Vom Pfanni-Areal zum Kunstpark Ost. Die Riem-Hallen machen zu, das Bahngelände in Freimann scheitert an astronomischen Mieten. Otto Eckart ist Eigentümer von Pfanni mit einem 80.000 Quadratmeter großen Firmenareal in Haidhausen am Ostbahnhof. 1996 wurde die Produktion nach Mecklenburg-Vorpommern verlegt: Pfanni zog in den neuen deutschen Osten (und kassierte dafür Millionen an Subventionen). Eckart wollte an Wolfgang Nöth vermieten. Der Münchner Kreisverwaltungsreferent Hans-Peter Uhl (CSU) setzte umgehend seine Abteilungen auf Untersuchungen der Gegebenheiten an: Auf dem Gelände gibt es fast 80 größere und kleinere Hallen.4

März 1996: „Bündnis für München“. Der unterlegene OB-Kandidat Peter Gauweiler (CSU, 37,9 Prozent) schlug dieses Bündnis OB Christian Ude vor. Die wichtigsten Eckpunkte: ein Kassensturz, ein Stopp der Verkehrsbehinderungsmaßnahmen, die Akzeptanz des kommenden Bürgerentscheids zu den drei Tunneln am Mittleren Ring, eine aktive Arbeits-, Wirtschafts- und Gewerbeflächenpolitik, verstärkter Wohnungsbau. Gauweiler lehnte die von Ude verkündeten Steuererhöhungen im Fall des Tunnelbaus ab. As Erstes müsse der Petueltunnel gebaut werden, da hier über 250 Millionen DM vom Freistaat kämen.5.

Juni 1996: Thalgott in der Kritik. Stadtbaurätin Christiane Thalgott zeichnete im SZ-Interview München als eine Art Dorado des Städtebaus. Allerdings bleibt im Münchner Stadtgebiet langfristig nichts, wie es ist: Überall ist eine Nutzungsverdichtung festzustellen. Das Ziel, die Wohnungszahl schneller wachsen zu lassen als die Zahl der Arbeitsplätze, sei nicht zu halten.
Warum stoppt man dann nicht den Zuwachs bei den Arbeitsplätzen? Das Problem existiert in dieser Form in München bis heute.
Die Stadtplanung steht unter dem Diktat der Mobilität. Der Durchschnittsbürger hat im Durchschnitt 36 Quadratmeter zum Wohnen; sein Auto braucht 25 Quadratmeter. Die Diskussion beim Mittleren Ring um zusätzliche drei Tunnels geht laut Thalgott am Thema vorbei. Die Münchner Architektenszene ist sehr konservativ: Die besten Architekten Münchens bauen inzwischen woanders, und von außen kommt nahezu nichts nach München.6

Juni 1996: Abstimmung über drei Tunnel am Mittleren Ring. Zwei Bürgerbegehren lagen vor zum Tunnelbau am Mittleren Ring. Anfang Februar 1996 hat die CSU 60.000 Unterschriften für ihr Bürgerbegehren Drei Tunnels braucht der Ring.7 Diese Tunnels wären: am Petuelring, am Luise-Kiesselbach-Platz und an der Richard-Strauß-Straße. Unterstützt wurde die CSU von FDP, BFB, Wirtschaftsverbänden, dem ADAC und lokalen BIs.
Am 6.3.1996 übergab die BI Das bessere Bürgerbegehren OB Christian Ude 30.000 Unterschriften. Die Forderung: kein Geld für Tunnels, sondern für soziale, ökologische und kulturelle Projekte. Getragen wurde das zweite Bürgerbegehren von Bund Naturschutz, VCD, Kreisjugendring und anderen Initiativen und SPD, Grüne, Gewerkschaften und Mieterverein.8
Am 25.3.1996 entschied der Stadtrat über die Zulässigkeit der beiden Bürgerbegehren. Voraussichtlich werden drei Fragen gestellt: 1) zum Begehren der Tunnelbefürworter, 2) zum Begehren der Tunnelgegner, 3) eine Stichfrage: „Für welches Begehren würden Sie sich entscheiden, wenn beide Varianten eine Mehrheit bekämen?“ Hier musste die Regierung von Oberbayern die Stadt beraten, da das Gesetz zur Einführung des kommunalen Bürgerentscheids in Bayern mit dem Volksentscheid vom 1.10.1995 zustande kam und am 1.11.1995 in Kraft trat9 Ude verwies auf die schlechte Finanzlage der Stadt, die Tunnelbauten mit der Erhöhung der Gewerbe- und Grundsteuer finanzieren müsse.10
Am 23.6.1996 fand die Abstimmung statt. Beide Bürgerbegehren erhielten eine Mehrheit; 1) 55 Prozent Ja, 45 Prozent Nein; 2) 59,8 Prozent Ja, 40,2 Prozent Nein. Die Stichfrage 3) gewannen die Tunnelbefürworter äußerst knapp mit 50,7 Prozent (gegen 49,3 Prozent). Die Wahlbeteiligung lag bei 32,2 Prozent. Die Baukosten für die drei Tunnel werden auf zwei Milliarden DM geschätzt.11
Zur Vorgeschichte vgl.: Mittlerer Ring

Juni 1996: SPD für Genossenschaftsbau. Hierfür sollen eigene Flächen ausgewiesen werden. Die SPD-Stadtratsfraktion fordert eine Heruntersubvention der Quadratmeterpreise auf 600 DM. Die soziale Funktion von Genossenschaftswohnungen besteht darin, preisgünstige Wohnungen in Selbstverwaltung anzubieten: Deshalb müssen Baugrundstücke günstiger überlassen werden.12

Juli 1996: Räumt Rodenstock sein Fabrikgelände? An der Jahnstraße wird im Frühjahr 1997 das Zettler-Gelände geräumt. Im Glockenbachviertel
wird zum ersten Mal gemunkelt, dass Rodenstock das Firmengelände mit 13.000 Quadratmeter an der Isartal- und Auenstraße und dem Roecklplatz räumt. Es soll sich aber um eine Bauanfrage für die Auenstraße 106 bis 110 handeln. Der Rodenstock-Pressesprecher äußerte, dass weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart an eine Verlagerung des Firmensitzes und Werkes in München gedacht sei.13
Das Firmengelände wurde dann 2010 verkauft; vgl. im Kritischen Immobilien-Lexikon: Rodenstock-Gelände

Juli 1996: Forum für Gewerbeimmobilien. Der Ring Deutscher Makler (RDM), Landesverband Bayern und der Gewerbe-Makler-Verbund München haben ein Forum für alle an Gewerbeimmobilien Interessierten initiiert. Wirtschaftsreferent Reinhard Wieczorek (SPD) stellte selbst die wichtigsten Projekte vor: die Neue Messe Riem, die Nachnutzung des alten Messegeländes, den Bereich der Kasernen, die freiwerdenden Bahnareale zwischen Hauptbahnhof und Pasing. Stephan Kippes vom RDM Bayern berichtete vom Höchststand der Büromieten im Herbst 1992, die bis Herbst 1994 nur wenig zurückgegangen waren.14

August 1996: Darlehen statt Leasing. Der frühere OB Georg Kronawitter hatte mit dem damaligen Ministerpräsidenten Max Streibl eine Leasing-Vereinbarung getroffen: Investoren sollten die Messe bauen und die 2,3 Milliarden DM aufbringen. Die Stadt retourniert über 20 Jahre über Leasingraten. Finanzminister Erwin Huber wollte nun die Vereinbarung kippen und die Bausumme der Messe über Darlehen finanzieren. Die Stadt hob das der alten Messe auf der Theresienhöhe erteilte Erbbaurecht auf; im Gegenzug müsste die Stadt in zwei Jahren die Restbuchwerte von 172 Millionen DM an die Messe überweisen. Nun will der Freistaat diese Summe um 35 Millionen DM reduzieren. Für die Stadtrats-Grünen war dies ein Bruch des Koalitionsvertrages, für OB Ude die Rettung, da ein jahrelanger Prozess gegen den Freistaat entfallen würde.15

Oktober 1996: U-Bahn-Historie. Am 29.1.1964 wurde im Stadtrat die U-Bahn-Strecke Freimann-Sendling beschlossen; der erste Spatenstich hierzu war am 1.2.1965. Am 19.10.1971 fuhr der erste U-Bahn-Zug zwischen Goetheplatz und Kieferngarten. Die Bauzeit betrug sechs Jahre und acht Monate. 1996 befördert die U-Bahn täglich über 900.000 Fahrgäste.16

November 1996: Neue Messe wird 1998 eröffnet. Das neue Messegelände mit 150.000 Quadratmetern soll am 12.2.1998 eröffnet werden. Der erste Bauabschnitt umfasst zwölf Messehallen, die zum Internationalen Congress Centrum München (ICM) gehören. Träger sind die Messe München, der Freistaat und die LH München. Laut OB Christian Ude wirke die neue Messe wie ein riesiges Konjunkturprogramm mit vielen neuen Arbeitsplätzen, außerdem werde die Wettbewerbsfähigkeit des Messestandortes München gesichert. Die Messestadt Riem soll künftig 16.000 Einwohner und 13.000 Arbeitsplätze haben. Im ersten Bauabschnitt sollen 7500 Wohnungen bis zum Jahr 2002 entstehen.17
Da ist es wieder, dieses unselige Junktim: Man baut für die neuen Arbeitsplätze die dafür nötigen Wohnungen, ein Nullsummenspiel für die Wohnungsnot in der Stadt.

November 1996: Wiesheu zu Münchens Chancen. Der bayerische Wirtschaftsminister Otto Wiesheu (CSU) äußerte sich im SZ-Interview zu Münchens Chancen und Risiken. Die Stadt profitiert vom Status der Landeshauptstadt, in der der Freistaat Universitäten, Fachhochschulen und viele Kulturinstitutionen unterhält. Der vom Freistaat intensiv geförderte U-Bahn-Bau läuft, die Kooperation beim MVV und der Messe ebenso. Die Stadt will ihre Anteile am Flughafen verkaufen, da ist der Freistaat dagegen, ebenso gegen die Umwandlung von einer GmbH in eine AG. Der Flughafen kommt primär der LH München zugute. München darf keinen Standortnachteil erleiden, sonst droht die De-Industrialisierung. Die Chancen liegen im High-Tech-Bereich, im Dienstleistungssektor, im Freizeitwert. Die Infrastruktur muss ständig verbessert werden, um Betriebe hier zu halten. Gewerbeansiedlungen und Wohnungsbau müssen günstiger werden.18

Dezember 1996: München kauft zweites Militärgelände. Nach der Panzerwiese geht die im Norden gelegene Waldmann-/Stettenkaserne in den Besitz Münchens über. Der Bund hat die Bauten 1995 geräumt. Das Areal im Ackermann-Bogen gegenüber dem Olympiapark mit 32 Hektar kostete 33 Millionen DM (rund 100 DM/qm). Einiges ist noch an die Fachhochschule vermietet, später sollen rund 1000 Wohnungen entstehen. Das Bundesfinanzministerium kündigte auch Kaufverhandlungen mit der Stadt für die Funk- und die Kronprinz-Rupprecht-Kaserne an, signalisierte aber auch Interesse an privaten Interessenten. Bonn will den Kommunen Grundstücke zum „entwicklungsunbeeinflussten Wert“ verkaufen, um Kosten der Bebauung zu reduzieren.19

Dezember 1996: Bürgerbegehren gegen überzogenen Wohnungsbau. Die BI Aubing/Lochhausen/Langwied hat Anfang Dezember 1996 rund 8000 Unterschriften im Münchner Rathaus abgegeben, um ein Bürgerbegehren zu starten: Im Münchner Westen (Freiham, Lochhausen, Aubinger Wasserturmwiese) sollen nur 3000 statt 10.000 Wohnungen gebaut werden. OB Christian Ude hat ein „Münchner Bündnis für Wohnungsbau“ angeregt: Unterstützer sind derzeit SPD, DGB und Mieterverein München.20

  1. Grill, Michael, Neu-Riem sprießt unaufhaltsam aus dem Boden, in SZ 10.1.1996 []
  2. Matzig, Gerhard, Alles schläft, keiner macht, in SZ 15.1.1996; Schmidt, Wally, Große Pläne für neuen Kulturtempel, in SZ 18.1.1996 []
  3. Münster, Thomas, Katastrophenjahr für den Wohnungsbau, in SZ 28.2.1996 []
  4. Grill, Michael, Das Geschenk des Knödelkönigs, in SZ 1.3.1996 []
  5. Müller, Frank, Gauweiler will „Bündnis für München“, in SZ 14.3.1996 []
  6. Knapp, Gottfried, Matzig, Gerhard, Grill, Michael, „Wir müssen auch mal lernen, nein zu sagen“, in SZ 27.6.1996; Hervorhebung WZ []
  7. Ring: Tunnel-Gegner nehmen erste Hürde, in SZ 5.3.1996 []
  8. Müller, Frank, Die Bürger sind jetzt Ring-Richter, in SZ 22.6.1996 []
  9. www.muenchen.de, Bürgerentscheide in München seit 1996, abgerufen am 26.3.2021 []
  10. Dürr, Alfred, Der Stimmzettel wird zum Fragebogen, in SZ 18.3.1996 []
  11. Dürr, Alfred, Bürger entscheiden für drei Tunnel am Mittleren Ring, in SZ 24.6.1996 []
  12. Genossenschaftsbau liegt der SPD am Herzen, in SZ 28.6.1996 []
  13. Rodenstock bleibt, in SZ 18.7.1996 []
  14. Bundschuh, Thomas, Informationen über Immobilien, in SZ 20.7.1996 []
  15. Dürr, Alfred, Ude – vom Freistaat über den Tisch gezogen? In SZ 10.8.1996 []
  16. Müller-Jentsch, Ekkehard, Die Eroberung des Untergrundes, in SZ 18.10.1996 []
  17. Lohse, Sinja, Die Messe München verlässt die Warteschleife, in SZ 4.11.1996 []
  18. Dürr, A., Fischer, E., „Die Bäume wachsen auch bei uns nicht von selbst“, in SZ 7.11.1996 []
  19. Müller, Frank, Stadt kauft Kasernengelände, in SZ 7.12.1996 []
  20. Neff, Berthold, Das große Zittern um den Wohnungsbau, in SZ 10.12.1996)
    Laut Ude würde nach der Reduktion der geplanten 9600 Wohnungen in Freiham auf ein Drittel die gesamte städtebauliche Konzeption von Freiham mit sozialer und verkehrlicher Infrastruktur nicht mehr funktionieren. Auf der Wasserturmwiese in Aubing würde eine Reduzierung der Wohnungen gleichzeitig eine Erhöhung der Grundstückspreise bedeuten. Bereits für Januar 1997 kündigte Ude das erste Treffen des parteiübergreifenden Bündnisses für Wohnungsbau an. Ude führte weiter aus, dass von 1990 bis Oktober 1996 in München 43.612 Wohnungen gebaut wurden und es gelungen sei, die Wohnungsnot zu lindern und die Explosion der Mieten zu stoppen bzw. teilweise rückgängig zu machen. ((Dürr, Alfred, „Der Wohnungsbau wird gewinnen“, in SZ 21.12.1996 []
Moloch München Eine Stadt wird verkauft

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