Moloch München Eine Stadt wird verkauft

1995

1
Titelbild: © Oswald Baumeister / Gesellschaft für ökologische Forschung e.V. []

Januar 1995: Kasernen zu Wohnungen. Die Bundeswehr unterhielt in München neun Kasernen, zwei große Übungsplätze und weitere Einrichtungen auf 770 Hektar. Bleiben sollten zum damaligen Stand die Fürst-Wrede-Kaserne, das Virginia-Depot (sein Biotopbereich soll laut einem Stadtratsbeschluss von 2014 nach Herstellung von Ausgleichsflächen als geschützter Landschaftsbestandteil ausgewiesen werden; vgl. Chronologie Juni 2020) und die Bayern-Kaserne. Diese wurde 2011 von der Stadt gekauft: Auf 47 Hektar sollen etwa 5500 Wohnungen für 15.000 Bewohner entstehen. Nun bemüht sich München um die Flächen der Funk-, Kronprinz-Rupprecht- und Waldmann/Stetten-Kaserne. Verkäufer ist die Bundesvermögensverwaltung. Für die Panzerwiese waren zunächst 300 Millionen DM gefordert: Man einigte sich auf 73 Millionen DM. Dort werden nun 3700 Wohnungen gebaut. Die Funk-Kaserne (33 Hektar) könnte bis 1997 geräumt werden, für die Kronprinz-Rupprecht-Kaserne (27 Hektar) wird ein Ideenwettbewerb mit 2000 Wohnungen und 500 Arbeitsplätzen vorbereitet. Die Waldmann/Stetten-Kaserne wird im Frühjahr 1995 geräumt. Dort sollen rund 1800 Wohnungen und 500 Arbeitsplätze entstehen.1

März 1995: Grüne gegen neue Messe. Am 7.3.1995 beschloss der Wahlparteitag der Grünen mit großer Mehrheit, mit Öko-Gruppierungen einen Trägerverein zu gründen, der ein Votum gegen die Neue Messe in Riem initiieren soll. Die neue Messe sei ein finanzielles Risiko und überfordere die Verkehrsverbindungen. Deshalb soll auf die Messe verzichtet und statt der 6000 dann 10.000 Wohnungen gebaut werden.2
Der Bürgerentscheid wäre im Herbst 1995 möglich; die Kommunalwahl wird am 10.3.1996 abgehalten.

März 1995: Behördlicher Naturschutz. Eine Tagung der Bayerischen Akademie für Naturschutz und Landschaftspflege (ANL) in Erding befasste sich mit der Frage der Ausgleichsmaßnahmen, die Eingriffe in die Natur kompensieren sollen. Ausgerechnet beim Wohnungsbau können solche Auflagen entfallen, wie ein Bundesgesetz zur Investitionsförderung für Kommunen und Bauträger regelt. Der Freistaat Bayern hat diese Möglichkeit voll genutzt: Dies steht im Widerspruch zu der Tatsache, dass der Naturschutz in Bayern Verfassungsrang hat. Der behördliche Naturschutz ist vage, was Absicht sein kann. Problematisch ist schon die Bewertung: Welchen Wert hat ein Biotop, das für den Bau von Wohnungen, Verkehrsanlagen oder Kraftwerken zerstört wird. In Bayern und anderen Bundesländern gibt es dazu ein Umrechnungssystem, um die Bedeutung zu erfassen und Grundlagen für notwendige Ausgleichsflächen zu liefern. Aber Rheinland-Pfalz berechnet für ein Projekt 3,9 Hektar Ausgleichsfläche: Dieses würde in Nordrhein-Westfalen 12 Hektar erfordern, wie die Tagungsleiterin Beate Jessel berichtete. Auch stellt sich die Frage, ob „abiotische Schutzgüter“ wie Boden, Wasser, Klima und Luft überhaupt bewertet werden können.3

April 1995: Fallmerayer Hof. Die Fallmerayerstraße 11 war über Jahre ein großes Spekulationsobjekt mit etwa 2000 Quadratmeter Grund. Früher war dort das Edelrestaurant „Fallmerayer Hof“ mit Biergarten. In den niederen Gebäuden waren kleinere Gewerbebetriebe und Ateliers. Um 1988 wurde alles geschlossen. Der Immobilienhändler Ben David hatte das Gelände ersteigert und hohe Abfindungen gezahlt, um Abriss und Neubau zu ermöglichen. Aber dann genehmigte die LBK Davids Neubaupläne nicht. 1992 wollte er drei Mehrfamilienhäuser bauen, aber nun klagten Nachbarn dagegen. Am 6.3.1995 gab ihnen das Verwaltungsgericht recht. David hatte noch andere Immobilien in der Neureuther-, Schleibinger-, Schwanthaler-, Rüdesheimer- und Westendstraße, die als Folge der schlechten Konjunktur ebenfalls unter Zwangsversteigerungen kamen. Am 11.4.1995 war die Zwangsversteigerung auf Betreiben der Bayerischen Handelsbank für die Fallmerayerstraße 11 mit 11,7 Millionen DM, am 25.4.1995 erfolgte der Zuschlag für 8,4 Millionen DM an einen Münchner Bauträger: Das waren zu der Zeit stolze 4200 DM pro Quadratmeter.4
Nachtrag Mai 1995: Das Grundstück Fallmerayerstraße 11 wurde zum Müllberg. BA-Vorsitzender Walter Klein (SPD) forderte diverse Male das Umweltschutzreferat zum Handeln auf, ebenso MdL Franz Maget (SPD). Die Eigentümerwechsel verhinderten eine Räumung der Müllberge.5

Mai 1995: Wohnungs-Leerstand 1993. Zum 30.9.1993 standen in Bayern 3,9 Prozent (189.000) der Wohnungen leer. Ursachen waren: Wohnungswechsel, unbezogene Neubauwohnungen, Umbauten und Renovierungen, schwerere Mängel oder Abriss.6

Juni 1995: Neuer Stadtentwicklungsplan in Arbeit. OB Christian Ude stellte den neu zu erstellenden Stadtentwicklungsplan vor: in 20 Jahren 100.000 Wohnungen, dazu Schlagworte wie Nachverdichtung, Umnutzung, Flächen-Recycling. Er nannte Neu-Riem. Freiham, Johanneskirchen/Daglfing (die heutige SEM Nordost), dazu neue Wohngebiete in Feldmoching, Alt-Riem und Lochhausen. Arbeitsplätze sind vorgesehen in Langwied/Freilandstraße, Ludwigsfelder Straße, Obersendling, Neuperlach-Ost und im Norden des Georg-Brauchle-Rings. (Hier wird 2021 die Südseite zugebaut). Ude sprach wieder einmal von einer „neuen Gründerzeit“ (vgl. 5.4.1994) und betonte, dass es keinen Stillstand in der Siedlungsentwicklung geben dürfe, um das wirtschaftliche und soziale Gleichgewicht nicht zu gefährden.
Die logische Konsequenz: Wachstum bis zum endgültigen Ende!

August 1995: Doblinger ordnet um. Die DIBAG Industriebau AG machte den zwei Prozent freien Aktionären ein Abfindungsangebot. Die Nachfolgeorganisation BSW hat 1994 noch einmal 800 Wohnungen aus dem Altbestand der NH Bayern verkauft und hält von den ursprünglich 32.500 Wohnungen noch 20.300. Die wegen der Übernahme der NH Bayern 1991 entstandenen Schulden von 2,2 Milliarden DM wurden inzwischen halbiert.7

August 1995: Zwei Häuser werden in Erhaltungszonen entmietet. Mannhardtstraße 10, Lehel, Siegesstraße 30, Schwabing: Die BSV Vermögensverwaltung und deren Vertreter Christian S. (mit inzwischen 12 verlorenen Prozessen) hat die Mannhardtstraße 10 einem Privateigentümer abgekauft, die Siegesstraße 30 der Stadt München, die es übrigens bis auf eine Wohnung hat leer stehen lassen, um einen höheren Kaufpreis zu erzielen. Bei beiden Wohnhäusern begannen Entmietungsschikanen: Eigenbedarfskündigungen, fristlose Kündigung wegen unerlaubter Untermiete (die Tochter lebte bei ihrem Vater in der Mannhardtstraße und wurde hier geboren), Kündigungen von Speicher- und Kellerabteilen und Entrümpelung, Durchbrüche von Wänden und Decken, Auswechseln von Türschlössern. Die städtischen Behörden verhängten Geldbußen wegen Schwarzarbeit und führten in der Siegestraße 30 eine „Totalversiegelung“ durch, um die restliche Bausubstanz zu schützen. Die BSV stellte sich auf den Standpunkt, dass eine Erhaltungssatzung dem Schutz von Mietern dienen solle, aber nicht auf leere Wohnungen anwendbar sei. Zwei SPD-Stadträte forderten von OB Ude den Rückkauf der Siegestraße 30.8

Oktober 1995: 800 Wohnungen in Freimann, 152 in Moosach. An der Fröttmaninger Heide errichtet die Bayerische Hausbau über 800 Wohnungen, Läden und einen Kindergarten. Das Grundstück gehörte dem Bund. Zwischen dem damaligen OB Georg Kronawitter und Josef Schörghuber (Bayerische Hausbau) bestand eine heftige Feindschaft, in der es auch um den früheren Freimanner Schießplatz ging. Der Bund schrieb das Areal schließlich öffentlich aus: Die Bayerische Hausbau kaufte es. Am 26.10.1995 wurde das Richtfest für 222 frei finanzierte Wohnungen gefeiert; insgesamt sollen über 800 dort gebaut werden. Die Heimstättenbaugesellschaft (Heimag München, wurde 2006 bis 2008 von der städtischen GEWOFAG übernommen) hat an der Brieger Straße 152 Wohnungen gebaut und verfügt nun über 4532 Wohneinheiten. OB Christian Ude sprach wieder einmal von Münchens „neuer Gründerzeit“; die Stadt rechne mit einer „dramatischen Bevölkerungszunahme“ und entsprechender Wohnungsnot.9
Diese dramatische Bevölkerungszunahme und Wohnungsnot wurden seitens der Stadt München bzw. ihrer Verantwortlichen sorgsam und eifrig durch die unaufhörliche Zunahme von Arbeitsplätzen geplant.

Dezember 1995: Neue Hallen braucht die Stadt. Nach dem absehbaren Ende der Hallenkultur in Riem im Mai 1996 planen die Konzertveranstalter Wolfgang Nöth, Mama Concerts und Stimmen der Welt den „Kultur- und Freizeitpark Freimann“. Er soll in einem ehemaligen Ausbesserungswerk der Bundesbahn an der Freimanner Lilienthal- und der Heidemannstraße entstehen. Dort hat die denkmalgeschützte Halle 55 („Zenith“) etwa 5000 Quadratmeter und ist doppelt so groß wie die drei Riemer Hallen Terminal 1, Wappensaal und Zeppelinhalle.10

  1. Neff, Berthold, Aus Kasernen werden 9000 Wohnungen, in SZ 3.1.1995 []
  2. Müller, Frank, Bürgerentscheid gegen die neue Messe, in SZ 9.3.1995 []
  3. Braun, Manfred, Naturschutz nur eine Frage der Auslegung, in SZ 21.3.1995 []
  4. Burtscheid, Christine, Abreißen und neu bauen – ein Rezept, das nicht aufging, in SZ 20.4.1995 []
  5. Hutter, Dominik, Schonfrist für Müllberg ist abgelaufen, in SZ 11.51995 []
  6. Immer mehr Wohnungen in Bayern stehen leer, in SZ 6.5.1995 []
  7. Doblinger ordnet die Gruppe neu, in SZ 2.8.1995 []
  8. Münster, Thomas, Wie Mieter unter einer Sanierung leiden, in SZ 7.8.1995 []
  9. Münster, Thomas, Zwei Richtfeste für fast 1000 Wohnungen in SZ 27.10.1995 []
  10. Dürr, Alfred, Kotteder, Franz, Die neuen Hallen sind gefunden, in SZ 9.12.1995 []
Moloch München Eine Stadt wird verkauft

Nicht angemeldet > Anmelden